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Hilfe, ich wohne bei einer Sekte!

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Was zunächst wie ein friedliches Leben in einem Berliner Kloster aussieht, entwickelt sich zu einem verstörenden Erlebnis. Eine Reihe von Juliania Bumazhnova.

Bild: Pixabay

Aus Wohnungsnot bin ich in meinem ersten Jahr in Berlin in einem Kloster gelandet. Trotz der freundlichen Klosterbewohner:innen und der anfänglich guten Stimmung entpuppte sich das Kloster als weit weniger harmlos, als zunächst gedacht. Jede Woche sollten wir uns im Sitzkreis versammeln, um unsere „Brüder- und Schwesternschaft“ zu stärken. Dabei wurden uns intime Fragen gestellt, die das gegenseitige Verständnis fördern sollten. „Was ist deine größte Stärke? Was deine größte Schwäche? Was war die größte Herausforderung, der du in deinem Leben begegnet bist?“ Erzwungene Verletzlichkeit als Mittel zum Zusammenhalt. Der Gruppenzwang führte dazu, dass sich einige viel mehr öffneten, als ihnen eigentlich lieb war. Manche versuchten, den Druck mit Witz anzukämpfen. Als zum Beispiel eine Nonne fragte: 

„Worum bittest du im Moment Gott?”, erwiderte ein Klostermitglied: „Ich antworte mit einem Zitat aus einem Film. Dafür muss ich euch aber zuerst den Inhalt des Films erklären.” Sie fing an, uns jede Nuance des Films nahe zu bringen, von den Protagonist:innen über den Plot bis hin zu dessen Interpretationen. Nach 15 Minuten kam sie endlich zum eigentlichen Zitat und beendete mit einem zufriedenen Lächeln ihre Rede: „Und dann sagte der Professor zu den Leuten: Ihr stellt dumme Fragen.” Langer Weg zum Ziel, aber im Grunde war ich einverstanden, dass das hier völliger Quatsch war. Die Leute im Sitzkreis sahen gereizt aus, ignorierten jedoch ihre Worte.

Das Sekten-Lexikon

Ich wollte aufhören, diese „Brüder- und Schwesternschaftstreffen” zu besuchen, was jedoch keine Option war, da das Besuchen der Treffen eine feste Wohnungsbedingung war. Ich fing an, mich über diese christliche Organisation, Chemin Neuf, im Internet zu informieren und fand kurzerhand heraus, dass die französische Anti-Sekten-Organisation Centre contre les manipulations mentales (Zentrum gegen mentale Manipulationen) sie in ihr Sekten-Lexikon aufgenommen hatte. Na Hallelujah! Ich wohnte in meinen vermeintlich wilden Zwanzigern nicht nur in einem Kloster, sondern auch noch bei einer Sekte.

Klein gehackter Lauch

Die Erfahrungen, die folgten, führten dazu, dass sich das Bild von einer Sekte nur noch weiter verfestigte. Bei einem großen Pflicht-Gottesdienst im Kloster, fragte ein Mönch in die Runde: „Bekommt ihr Visionen?“. „Ich sehe etwas!“, meldete sich ein junger Mann. Mit geschlossenen Augen und ernster Miene erklärte er: „Ich sehe einen Lauch, der in sehr dünne Scheiben geschnitten wird.“ Selbst der Mönch schien in diesem Moment ratlos. „Und was meinst du, was das bedeutet?“, fragte er. „Ich glaube, dass ich die Dinge langsam angehen sollte“, überlegte er. „Schritt für Schritt.“ „Das hört sich doch gut an!“, sagte der Mönch lobend. Sprachlos beobachtete ich die Reaktionen der anderen, die jedoch nur zustimmend nickten.

Die Bibel-Szene


Am Ende des Gottesdienstes wurde uns noch eine „lustige“ Szene vorgespielt, die uns „aufmuntern“ sollte. Der junge Mann, der auch über den Lauch gesprochen hatte, ging nach vorne. Eine Nonne gab ihm ein Stück Brot. Er probierte es und sagte dann: „Toll… aber etwas fehlt.“ Eine andere Sorte Brot wurde ihm gegeben. Er wiederholte seine Aussage. Die Nonne überreichte ihm die Bibel. Ohne zu zögern riss er tatsächlich eine Seite heraus, steckte sie sich in den Mund und kaute genüsslich darauf herum, bis sich ein Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnete. „Das ist ja köstlich!”, rief er triumphierend aus. „Nichts ist so köstlich wie das Wort Gottes.” wurde anschließend auf einer PowerPoint-Präsentation verkündet. Ich musste schlucken, nicht vor Appetit, sondern vor Verblüffung, versteht sich. Das war zu viel des Guten. Ab diesem Moment fing ich an, meine Flucht aus dem Kloster zu planen. Doch das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.


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