Zusammen ist man weniger allein? Von wegen! Vielen Studierenden fehlt am Anfang des Studiums der Anschluss. Anonymität und Einsamkeit an der Uni sind ernstzunehmende Probleme. Denn sie beeinflussen nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Lernleistung und die Gesundheit. Von Kristin Böschen
4 Millionen Einwohner in Berlin, 40.000 Studierende an der FU, 40 Kommilitonen im Seminar: Zahlreiche potentielle neue Bekannte, Freunde, Partner, Lern- und Leidensgenossen. Und trotzdem beginnt mit dem Studium nicht für jeden die so oft beschworene beste Zeit des Lebens. Für Tobias*, der mittlerweile schon seinen Master macht, war zumindest das Bachelorstudium eine Zeit der Einsamkeit. Ihm fiel es schwer, Kontakte zu Kommilitonen zu knüpfen. „Am Anfang hatte ich noch Freunde außerhalb der Uni, Leute aus der Schulzeit, die auch nach Berlin gegangen waren. Nach und nach verlor sich dieser Kreis aber und im Studium kamen keine neuen Leute hinzu.” Das anfängliche Gefühl der Anonymität wurde mit jedem alleine verzehrten Mensaessen, mit jedem Tag, an dem er wieder mit niemandem außer dem Supermarktkassierer gesprochen hatte, stärker: “Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass da etwas nicht in Ordnung war, dass ich nicht nur alleine war, sondern mich einsam fühlte.”
Mit dieser Einsamkeit an der Uni ist Tobias nicht alleine. Eine Statistik aus dem Jahr 2013 zeigt: Kontaktprobleme an der Uni gehören zu den regelmäßig genannten Gründen unter Studierenden, die die Psychologische Beratung der FU aufsuchen. Dass Anonymität an der Uni ein Problem darstellt, kann Brigitte Reysen, Diplom-Psychologin und Mitarbeiterin in der Beratungsstelle, ebenfalls bestätigen. Zwar würden die meisten Studierenden zunächst aufgrund von Lernproblemen zu ihr kommen. „Im Laufe des Gesprächs stellt sich jedoch oft heraus, dass dahinter eigentlich ein anderes Problem steht – das fehlende soziale Umfeld an der Uni.”
Auch Tobias hatte mit Lernproblemen zu kämpfen: In überfüllten Lehrveranstaltungen bleiben lebendige Diskussionen aus, Gruppenarbeiten sind meistens rein zweckorientiert und neben Notendruck findet das Gespräch mit dem Sitznachbarn keinen Platz. Reysen sieht im fehlenden Kontakt unter Studierenden eine Ursache von Lernproblemen: „Lernprobleme können sich auch daraus entwickeln, dass man keine Unterstützung erfährt. Wer stattdessen mit jemandem zusammen lernt, hat oft automatisch beides: Lernerfolg und Lebensqualität durch den sozialen Umgang.“
Einsamkeit zeigt sich aber nicht nur als Lernstörung. Der US-amerikanische Neurowissenschaftler John Cacioppo und seine Kollegen haben in diversen Studien nachgewiesen, dass sie zum Beispiel ein häufiger Auslöser für Depressionen ist. Den Betroffenen ist dies aber oft nicht bewusst, so Reysen. Das müsse nicht der einzige Grund sein, warum Einsamkeit in der Sprechstunde seltener angegeben wird als Lernprobleme oder Depressionen: „Vielen ist es auch unangenehm, über dieses Thema zu reden und so werden Studienprobleme gewissermaßen vorgeschoben.“
Oft liege es daran, dass die Großstadt vor allem Zugezogenen aus ländlichen Regionen zu schaffen mache, so Reysen. Gerade am Anfang eines Studiums sei es in einer anonymen Metropole wie Berlin schwieriger, neue Freunde kennenzulernen, als in einer kleinen Studentenstadt, in der sich viele Erstsemester in einer ähnlichen Situation befinden und derselben Kneipe tummeln.
Tobias hatte mit dem gleichen Problemen zu kämpfen, auch er ist vom Land in die Stadt gezogen. Mit ein bisschen Geduld und dem Mut, die eigene Komfortzone zu verlassen, konnte er aber aus seiner Situation herauskommen. Ein Bekannter nahm ihn mit zu einer Sitzung der Fachschaft, wo er Anschluss gefunden hat und bis heute aktiv ist. Auch Reysen empfiehlt Studierenden sich abseits der Lehrveranstaltungen zu engagieren. Darüber hinaus bietet die Psychologische Beratung jedes Semester eigene Workshops an, die Studierenden gegen die Vereinsamung helfen sollen.
Ob man es nun aber in diesem Workshop, in der Badmintongruppe oder doch an der Bar versucht, wichtig ist vor allem: Misserfolge nicht persönlich nehmen und Geduld mit sich selbst und anderen haben.
*Name geändert