Le dernier jour d´un condamné (Der letzte Tag eines Verurteilten) von Victor Hugo eröffnet Leser*innen auf eindrucksvolle Art und Weise die schaurige Welt eines zum Tode Verurteilten. In der ersten Folge des Sprachenkarussells präsentiert Constanze Baumann diesen Klassiker der französischen Literatur, der sich vor allem für ein fortgeschrittenes sprachliches Niveau eignet.
„Condamné à mort! Voilà cinq semaines que j´habite avec cette pensée, toujours seul avec elle, toujours glacé de sa présence, toujours courbé sous son poids!”
(„Zum Tode verurteilt! Seit fünf Wochen lebe ich nun mit diesem Gedanken, immer allein mit ihm, immer erstarrt von seiner Gegenwart, immer gekrümmt unter seiner Last!”)
Mit diesen eindringlichen und verzweifelten Hilfeschreien beginnt der Roman „Le dernier jour d´un condamné“ des französischen Romanciers Victor Hugos. Unverhofft werden die Leser*innen direkt in die dramatische Lebensrealität des unbekannten Protagonisten geschmissen, der in einer kargen Gefängniszelle auf seine Hinrichtung wartet. Seine Gedanken kreisen unaufhörlich um den Tag X; selbst im Schlaf findet der Verurteilte keine Ruhe. Egal, was er auch tut – er ist seinem Schicksal ausgeliefert und kann seinem bevorstehenden Tod nicht mehr entrinnen. Atemlos nehmen die Leser*innen an seinem Innenleben teil, welches zwischen schriller Panik und dem Versuch, sich selbst zu beruhigen, schwankt. Währenddessen geht vor seinem Fenster das Leben unbeirrt weiter. Die Sonne scheint und die Händler und Händlerinnen verkaufen fröhlich Blumen. Der Verurteilte in seinem Kerker ist nicht mehr Teil dieser äußeren irdischen Welt: er wird bereits zu den Toten gezählt.
Ein Appell an die Menschlichkeit
Victor Hugo schrieb jenen beeindruckenden Roman mit nur 26 Jahren. Nachdem er auf dem Pariser Rathausplatz die Vorbereitungen für eine kurz bevorstehende Hinrichtung beobachtet hatte, setzte er sich am nächsten Tag an den Schreibtisch und begann mit der Niederschrift. In einem wahren Schreibrausch floss die Geschichte nur so aufs Papier und er beendete den Roman in nicht mehr als drei Wochen.
Es ist sein flammendes Plädoyer gegen die Todesstrafe. Er verrät nicht, wofür der Protagonist verurteilt wurde und legt den Fokus einzig und allein auf dessen seelische Qualen. Damit bewirkt er das Unvorstellbare: die Leser*innen identifizieren sich mit einem Verbrecher und bringen Empathie für diesen auf.
Fesselnd bis zur letzten Seite
Auch wenn die Todesstrafe in Frankreich erst 1981 abgeschafft wurde, hat Hugos Werk trotzdem zu einem langsamen Sinneswandel in der Gesellschaft beigetragen. Und bis heute hat der fast 200 Jahre alte Roman nicht an Aktualität verloren. In 55 „Henkerstaaten“ wird die Todesstrafe bis zum jetzigen Zeitpunkt noch vollstreckt. Die Länder mit den meisten Hinrichtungen sind dabei China, der Iran, Saudi-Arabien, Ägypten und die USA.
Hugos literarische Kritik an dieser Praxis entfaltet auf kaum 100 Seiten eine gewaltige Wortkraft. Es ist gewiss kein trockener, dicker Wälzer, sondern ein wahrer Pageturner, bei dem man bis zum Schluss mitfiebert!