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„Saudade“ – der Mut zur Sehnsucht

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Auf einer Reise nach Lissabon stolpere ich über einen Begriff, der mich fragen lässt: Welchen Wert hat die Sehnsucht nach dem, was für immer unerreichbar bleibt? Ein Essay von Juliania Bumazhnova.

Straßen Lissabons, Foto: Juliania Bumazhnova

Auf einer Solo-Reise nach Lissabon lerne ich den portugiesischen Begriff „saudade“ kennen. Er bedeutet so viel wie Traurigkeit, Wehmut, Sehnsucht, Heimweh, Fernweh oder Melancholie. Es steht für das Gefühl, etwas Geliebtes verloren zu haben und drückt das verdrängte Wissen und das daraus resultierende Unglück aus, die Sehnsucht nach dem Verlorenen nie stillen zu können.

“Saudade” begegnet mir in einer alten Buchhandlung voller portugiesischer Poesie. Einer der berühmtesten portugiesischen Dichter, Fernando Pessoa, schreibt in seinem Gedichtband:

Oh salziges Meer, wie viel von deinem Salz sind Tränen Portugals!“

oder

Es gibt Schiffe, die viele Häfen anlaufen, aber kein einziges fährt dorthin, wo das Leben nicht schmerzhaft ist.”


Auf den Straßen Lissabons lerne ich den portugiesischen Musikstil „Fado“ kennen, der von „saudade“ geprägt ist. Die Sängerinnen und Sänger singen von unglücklicher Liebe, sozialen Missständen und der Sehnsucht nach besseren Zeiten. Ich glaube, „saudade“ auch in dem ruhigen Lächeln der Menschen zu erkennen, die an mir vorbeigehen. Ein Lächeln, von dem man nicht weiß, ob es Freude oder Traurigkeit ausdrückt. Auf jeden Fall scheinen sich die Menschen in diesem Zustand wohl zu fühlen, was mich dazu einlädt, mich ihrer Stimmung anzuschließen.

Sehnsucht – ein gefährliches Gefühl?

Während ich allein im Café sitze, schaue ich aus dem Fenster und denke über die Verluste nach, die wir im Laufe unseres Lebens erleiden. Wir verlieren unsere Kindheit, Freundschaften, Partnerschaften, früher oder später Familienmitglieder. Ich denke auch an die Dinge, um die wir trauern können, die wir nie besessen haben. Wenn wir uns fragen, wer wir hätten sein können, wenn wir in anderen Familien aufgewachsen wären, an anderen Orten, in anderen Zeiten, in anderen Welten? Wären wir glücklicher?

Dies scheinen trostlose Fragen zu sein, die uns nicht weiterbringen. Schließlich gibt es keine befriedigende Antwort auf die Frage “Was wäre, wenn…?”. Selbst wenn es dort besser wäre, bringen uns diese Überlegungen nur Traurigkeit und Unzufriedenheit?

Trost in der Trostlosigkeit

In unserer Gesellschaft, in der wir stolz unsere glücklichsten Momente auf Instagram präsentieren, werden Gefühle wie Freude, Dankbarkeit und Zufriedenheit hochgehalten. Während Trauer und Kummer als Gefühle zweiter Klasse abgestempelt werden, die wir besser vor anderen verbergen sollten. Ein Zustand, der heute auch toxische Positivität genannt wird.

Ich frage mich, warum ich, wenn ich über die Verluste nachdenke, die das Leben mit sich bringt, zwar traurig bin, aber gleichzeitig in mir ein angenehmes, ruhiges Gefühl aufkommt. Vielleicht etwas, was ich sogar Freude nennen könnte. Ich erkläre mir das so: Wenn man anerkennt, dass es Dinge gibt, die man verloren hat oder zu denen man nie Zugang haben wird, stellt man gleichzeitig eine Verbindung zu dem „Verlorenen“ und „Unzugänglichen“ her. Die Wehmut würdigt die Tatsache, dass wir in einer unvollkommenen Welt leben, in der so vieles besser sein könnte. Sie beschämt uns nicht für die schleichende Erkenntnis, dass das Leben schwierig ist. Sobald wir die Einsicht akzeptieren, dass das Leben in dieser Welt voller Leiden ist, brauchen wir sie nicht mehr zu verdrängen oder uns für sie schuldig zu fühlen; stattdessen können wir eine Verbindung zu dem, was uns in dieser Welt fehlt, herstellen, was Trost spenden kann.

Ich nehme mir vor, „saudade“ mit nach Berlin zu nehmen und das nächste Mal, wenn das Gefühl von Traurigkeit und Sehnsucht kommt, es nicht zu verdrängen, sondern zuzulassen. Denn gerade die Welt, die keinen Platz für „saudade“ hat, ist eine trostlose.


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