Architektur zeigt, wie wir leben wollen – oder müssen. Nicht nur die gläsernen Fassaden, auch die Gebäude an sich spiegeln den Zeitgeist wider und erzählen eine Geschichte von gesellschaftlichen Idealen im Wandel. Text: Enya Denzel

»Bauhaus«, entstanden in den 20er Jahren, ist der erste industrialisierte Wohnungsbau, der den Mensch in den Blick nimmt. Der Stil zeichnet sich durch minimalistische, einfache Entwürfe mit klaren Linien aus. Er denkt Handwerk, Design, Textilien und soziale Aspekte ganzheitlich mit. Funktionalität steht im Vordergrund. Nach der pompösen Kaiserzeit ist das revolutionär. Es sind die Anfänge des seriellen Baus, der die Wohnverhältnisse insbesondere für sozial Benachteiligte verbessert. Die neu errichteten Gebäude sind für die Bewohner*innen fast luxuriös, haben sie vorher in Mietskasernen gelebt, meist ohne eigenes Bad oder Toilette. Die neuen Wohnungen sind zwar klein, aber funktional – mit Bad und Küche.
Aus dem Bauhaus entsteht der Brutalismus. Hier werden rohe Materialien, vor allem Sichtbeton, in Szene gesetzt. Im kleinen Maßstab, wie beispielsweise in der St. Agnes Church in Berlin, die heute die König Galerie beherbergt, kann das sehr schön aussehen. Der brutalistische Stil findet sich auch im Plattenbau wieder, auf den in den 50er Jahren besonders der Ostblock setzt. In Zeiten, in denen die Innenstädte zerfallen, ist die vertikale Stadt mit Grünflächen und Begegnungszentren sehr beliebt. Die Bewohner*innen können sich mit diesen Wohnsiedlungen identifizieren. Doch aus wirtschaftlichen Motiven werden aus gut durchdachten Siedlungen standardisierte monotone Plattenbauten, nicht nur im Osten. Die Gropiusstadt im Südosten Neuköllns ist ein gutes Beispiel für triste Satellitenstädte. Ursprünglich als vierstöckige Wohngebäude geplant, werden daraus aufgrund des Platzmangels in der geteilten Stadt Hochhäuser mit bis zu 31 Geschossen. Der menschliche Maßstab wird völlig vergessen. Eine Monotonie aus Platte. Schlafstädte, denen Grünflächen und soziale Räume fehlen, was zur sozialen Isolation von Menschen führt. Die »autogerechte Stadt« mit ihren auf autofahrende Arbeiter ausgerichteten Wohnsiedlungen spiegelt den funktionalistischen Zeitgeist der 50er und 60er Jahre wider. Nach und nach werden die sozialen Begegnungsräume wegrationalisiert, was dazu führt, dass es Bewohner*innen schwerfällt, sich mit ihrem Zuhause zu identifizieren. Die Instandhaltung bleibt oft aus. Häufig sind Fahrstühle kaputt, was die Treppenhäuser zu Angsträumen macht, gerade für ältere Menschen, die die Treppen nicht mehr schaffen.

In den 90er Jahren gibt es nach dem Fall der Mauer schlagartig günstigen Baugrund, vor allem in Berlin. So entstehen komplett neue Straßenzüge wie am Potsdamer Platz. Große Marken bauen große Gebäude. Die riesigen Glasfronten zeugen von Selbstdarstellung, Größenwahn und Abgrenzung nach unten. Gebaut werden fast ausschließlich Bürogebäude, was die Innenstadt spätestens nachts zu einem toten Ort macht. Das wirft die Frage auf, wem der öffentliche Raum eigentlich gehört. Dem Neoliberalismus?
Verglaste Bürogebäude: Manche finden sie schön, viele finden sie hässlich. In manchen Fällen sind sie aber vor allem eins: gefährlich. Der sogenannte »Walkie Talkie -Tower« in London ist so fehlkonstruiert, dass er Brände in der Nachbarschaft auslöste. Das 160 Meter hohe Gebäude reflektiert durch seine gekrümmte und verglaste Front das Sonnenlicht, sodass auf der Straße unterhalb des Gebäudes Temperaturen bis zu 90 Grad herrschten. Fußmatten brannten, Spiegeleier bruzelten und das Armaturenbrett eines Jaguars schmolz – war also nicht alles schlecht. Hieran zeigt sich ganz deutlich: Der Mensch wurde wieder nicht mitgedacht, beziehungsweise nur der »Homo Büros«.
Ist der zukünftige Zeitgeist vielleicht wohnlicher? Gerade trendet auf Instagram die Ästhetik des Öko-Brutalismus. Dort treffen minimalistische Betonbauten auf die Pflanzenwelt. Er hat etwas Dystopisches: Die Natur, die sich ihren Raum zurückerobert. So bricht er die Monotonie des klassischen Brutalismus. Allerdings eignet sich der Öko-Brutalismus nur für die Nachnutzung bestehender Gebäude, wie etwa der Flakturm VI in St. Pauli, in dem sich der Hamburger Club »Uebel und Gefährlich« befindet. Im Gegensatz zu den Versprechen des Greenwashing-Marketings ist Beton nämlich alles andere als umweltfreundlich, da bei der Herstellung viel CO₂ ausgestoßen wird.

Die gute Nachricht: Nachhaltiges Bauen ist in der Architektur angekommen, der Begriff »Bauwende« ist allgegenwärtig. In der Umsetzung gibt es zurzeit zwei Strömungen. Die einen wollen smartes Bauen inklusive hypermoderner und nachhaltiger Fertigung, recyceltem Beton, Einsatz von Robotern und KI, die Wind- und Kühleffekte der Gebäude berechnet. Die andere Strömung sieht das kritisch. Es ist nachhaltiger einen Regler oder Knopf zu verbauen, da bei smartem Wohnen viele Kabel in der Wand verlegt werden müssen, die eine deutlich kürzere Lebensdauer haben als die Wand selbst. Zudem sind die hochtechnisierten Gebäude ein attraktives Ziel von Cyberangriffen. Daher setzt diese Gegenströmung auf Reduktion. Es werden natürliche Baustoffe wie Holz, Erde und Lehm verwendet und bei der Planung schon die Nachnutzung mitgedacht. Die FU macht’s vor: Die Holzlaube ist nach diesem Konzept entworfen und gebaut worden. Weiterhin ist bezahlbarer Wohnraum knapp, während urbanes Leben im Trend liegt. Es bleibt abzuwarten, welche Wohnformen sich entwickeln oder ob wir alle im Altbau alt werden. Meine Mitbewohnerin und ich sind uns jedenfalls einig: Für unsere zukünftigen Wohnungen nehmen wir angesichts der prekären Wohnungssituation, was wir bekommen. Das ist wohl der wahre heutige Zeitgeist.