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Zusammenhalt oder Kontrolle? Meine Erfahrungen bei Chemin Neuf

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Aus Wohnungsnot landet Juliania Bumazhnova im ersten Jahr ihres Studiums in Berlin in einem Kloster. Außer einiger strenger Regeln erscheint das Leben im Kloster friedlich und unkompliziert. Doch dann findet sie heraus, dass eine Anti-Sekten Organisation die christliche Gemeinschaft, Chemin Neuf, die das Kloster betreibt, als Sekte einordnet. Sie entscheidet sich, das Kloster zu verlassen. Vorher steht jedoch die berüchtigte Jericho-Woche auf dem Programm. 

Ich erlebte Gottesdienste, von denen mir übel wurde. Quelle: Pexels. 


An einem Sonntagabend Ende Dezember trafen sich etwa 40 junge Menschen Anfang 20 aus verschiedenen christlichen Gemeinden im Kloster, um gemeinsam die Jericho-Woche zu beginnen. Vor dem ersten gemeinsamen Gottesdienst wurde uns das Konzept der Jericho-Woche erklärt: Junge Menschen verschiedener christlicher Konfessionen – katholisch, evangelisch, orthodox und freikirchlich – treffen sich mit dem Ziel, in Workshops und Gottesdiensten zu lernen, dass sie mehr verbindet als trennt. Die Gottesdienste sollten “charismatisch” sein. Ein zentrales Merkmal charismatischer Gottesdienste ist die Betonung emotionaler Ausdrucksformen des Glaubens, wobei gemeinsam getanzt, gelacht und geweint wird.

Aufgezwungene Verletzlichkeit

Immer wieder wurde von uns erwartet, dass wir uns vor fremden Menschen öffnen, über unsere Unsicherheiten und Schwächen erzählen und unsere größten Fehler gestehen. Sich verletzlich zu zeigen, kann sicherlich eine heilende Wirkung haben, aber wenn dies erzwungen wird, kann meiner Meinung nach weiterer Schaden entstehen. Verletzlichkeit sollte das Resultat von Vertrauen und dem Wunsch, sich zu öffnen, nicht von Zwang sein. Ich entzog mich den Gottesdiensten, da mir von der ganzen aufgezwungenen Offenheit übel wurde. Ich hatte den Eindruck allein mit diesem Gefühl zu sein bis ich mit den verschiedensten Leuten: Katholik*innen, Protestant*innen als auch Atheist*innen ins Gespräch kam, die mir gestanden, sich ebenfalls mit der erzwungenen emotionalen Enthüllung unwohl zu fühlen. Es fühlte sich verboten an, den Ansatz der Jericho-Woche zu hinterfragen, was unsere Solidarität untereinander jedoch verstärkte.

Eine Nonne schimpfte mit mir, als ich mich einem Gottesdienst entzog. Ich erklärte ihr, dass ich mich in den Gottesdiensten unwohl fühlte. Davon wollte sie nichts hören und entgegnete mir, dass ich nicht offen genug sei und noch viel an mir arbeiten müsse, um den Anforderungen des Christentums gerecht zu werden.

Doppelmoral von Chemin Neuf

Hier offenbarte sich für mich die ganze Doppelmoral von Chemin Neuf: Während offiziell der Zusammenhalt zwischen verschiedenen christlichen Konfessionen gepredigt wurde, fehlte jeglicher Respekt für individuelle Spiritualität. Stattdessen wurde ein starres Schema vorgegeben, wie Gott näher gekommen werden soll, während andere Herangehensweisen als „falsch“ abgestempelt wurden.

Dahinter steckt ein Gottesbild, das ich nicht vertreten kann. Es fällt mir schwer, mir einen Gott vorzustellen, der starr, kontrollierend und schnell in Kategorien wie ‘gut’ und ‘schlecht’ einteilt. Liebe ist befreiend, nicht einengend. Wenn ich an einen “Gott der Liebe” denke, stelle ich mir jemanden vor, der der Vielfalt menschlichen Lebens mit Offenheit und Akzeptanz begegnet und jedem Menschen Raum gibt, auf seine Weise den Weg zu ihm zu finden oder auch nicht zu finden.

Vereint in Verschiedenheit

Ihr fragt euch vielleicht, ob ich anschließend das Kloster verlassen habe. Nun… nein. Die Corona-Krise begann. Ich verbrachte drei Monate in meiner Heimatstadt und dann noch drei Monate im Kloster, bevor ich endlich ein neues Zuhause in Berlin fand.

Obwohl die Erfahrungen während der Jericho-Woche bedrückend waren, bereue ich die Zeit im Kloster nicht. Ich habe wundervolle, interessante Menschen kennengelernt, mit denen echte Gemeinschaft und tiefer Zusammenhalt entstanden. Wir fanden zueinander nicht aufgrund unserer Ähnlichkeiten, sondern durch einen tiefen Respekt für unsere Unterschiede.


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